:freitag, 3.5 prozent fettgehalt

prolog:
in einem bestimmten raum des bekannten universums und in einem bestimmten bereich der sinnlichen wahrnehmung ist die folgende geschichte wahr.

* * * * *

es war ein ganz normaler freitag vormittag, abgesehen von der tatsache, dass mir die frischmilch ausgegangen war. ich weiss nicht, wie das geschehen konnte - normalerweise verfüge ich immer über einen ausreichenden vorrat an milch mit 3,5% fettgehalt. aber der heutige freitag entzog sich einer zugehörigkeit zu diesem 'immer': egal, wie lange ich - leise fluchend und ungläubigen blicks - in den geöffneten kühlschrank starrte: es fand sich nicht einmal mehr der schatten eines schlucks milch.

ich sah mich also mit dem problem konfrontiert, meinen kaffee entweder schwarz trinken zu müssen, oder loszufahren, um neue milch zu kaufen. ich hasse schwarzen kaffee. und ich hasse es, noch vor der ersten tasse (also praktisch im halbschlaf) das haus zu verlassen. es gibt situationen, die wünscht man nicht einmal seinem ärgsten feind.

nachdem in mir jedoch die erkenntnis gereift war, dass das trinken schwarzen kaffees deutlich verheerendere folgen haben kann als das komatöse lenken eines kraftfahrzeugs, nahm ich die autoschlüssel vom wandbrett, verliess das haus und fuhr los.

die kürzeste verbindung zwischen meiner kaffeemaschine und dem nächsten tiefkühlregal führt über die bundesautobahn 4, köln-olpe. kurz vor der abfahrt untereschbach überholte mich ein blauer golf cabrio mit gummersbacher kennzeichen. am steuer eine junge frau, anfang/mitte 30, die blonden haare zu einem im fahrtwind wehenden pferdeschwanz zurückgekämmt. die sonnenbrille ins haar hochgesteckt, strahlende augen, wenig geschminkt. als sie vorbeifuhr und zu mir hinüberlächelte, war es die perfekte inszenierung eines perfekten freitag vormittags.

rasch griff ich zum handschuhfach hinüber, kramte einen stift und einen notizblock hervor. die linke hand am steuer und den block auf den knien kritzelte ich schnell ein paar worte nieder, setzte nach kurzem blick in den rückspiegel den blinker, wechselte die spur und nahm die verfolgung auf. normalerweise tue ich so etwas nicht (genau genommen hatte ich es bisher noch nie getan), aber zum einen war hier schneller handlungsbedarf angezeigt und zum zweiten war ich ohnehin nur auf dem weg zum nächsten milchregal - es konnte also überhaupt nichts schiefgehen.

es ging nichts schief. ein paar hundert meter weiter waren unsere beiden fahrzeuge wieder auf gleicher höhe und als sie zum zweiten mal zu mir herüberschaute, hielt ich den beschrifteten zettel ans seitenfenster. darauf stand:

'an der nächsten raststätte werde ich eine panne haben!'

sie hob eine augenbraue, nickte fast unmerklich, lächelte wieder und ich schickte einen kurzen dank an die schicksalsmächte, die mir heute die milch hatten ausgehen lassen.

an der raststätte aggertal parkten wir unsere fahrzeuge nebeneinander, stiegen aus und sahen uns zum ersten mal wirklich an. wir betrachteten uns aufmerksam und distanzlos, ohne scheu, ohne verlegenkeit. wie zwei verbündete, die während der letzten 500 jahre zusammen das geschick dieser welt gelenkt haben. es war ganz anders als noch kurz zuvor auf der autobahn: dort sind alle vorbeifahrenden personen eine million lichtjahre entfernt. sobald eine person hinterm steuer sitzt, mutiert sie vom individuum zum fahrzeuglenker. aber hier, ohne die distanzierenden fahrtgeräusche, ohne den schützenden mantel von einer tonne stahlblech, ohne die separierende geschwindigkeit von 130km/h, war sie plötzlich unglaublich real, unglaublich nah. und ich betrachtete sie zum ersten mal aus einer null-stundenkilometer-perspektive mit einem null-stundenkilometer-blick, während gleichzeitig all unsere sinne auf hochfrequenzempfang eingestellt waren. wir standen mitten im nirgendwo, in einer transparenten zeitblase, an deren außenhülle die minuten, stunden, tage und monate abglitten, irrisierend wie flirrende luft auf heissem asphalt. wir standen dort und schauten uns ein halbes menschenleben lang wortlos an und es gab nichts, was man hätte mehr tun müssen. wir kannten uns seit jahrtausenden.

irgendwann - ich weiss nicht, ob es nach 2 minuten oder nach 500 jahren war - fragte sie mich plötzlich ohne jede einleitung:

'...findest du mich hübsch?'

ich war irritiert - vermutlich hätte ich statt dieser frage eine belanglose begrüssung, ein 'hallo' oder etwas ähnlich lapidares erwartet. aber da wir uns schon seit ewigkeiten kannten, machte es sinn, unsere zeit nicht mit floskelhaften gemeinplätzen zu verschwenden. also antwortete ich nach einer kurzen sekunde des überlegens absolut wahrheitsgemäss:

'nein.'

sie war nicht hübsch - sie war auf unbegreiflich selbstverständliche art schön. sie war so unbeschreiblich schön, dass ich nicht einmal den versuch wagen werde, ihre äussere erscheinung in worte zu fassen. in jeder ihrer bewegungen, in jeder mimik, in jeder kleinsten geste war sie die dirigentin einer visuellen symphonie. die hintergründigkeit ihres vierdimensionalen blicks, die hohen wangenknochen, die leichte asymmetrie ihrer vollen, geschwungenen lippen verwoben sich zu durchführung, coda und reprise. und während wir uns stillschweigend betrachteten, wussten wir beide: hier gibt es nichts zu sagen, nichts weiter zu tun - für niemanden. es war ein perfekter moment absoluter vollkommenheit - ein augenblick, den man nur einmal erlebt, und auch das nur mit sehr viel glück. jede weitere handlung wäre profan und überflüssig gewesen... nein, hier gab es nichts mehr zu tun. wir waren uns begegnet - das war alles.

wir tauschten einen letzten, seltsam vertrauten blick und stiegen wieder in unsere wagen. während ich den schlüssel ins zündschloss steckte, kurbelte sie ihr seitenfenster herunter und fragte mich:

'möchtest du dein todesdatum wissen?'

ich nickte, denn ich fühlte, dass ihre antwort wichtig sein würde. sie zögerte kurz, nestelte an dem schlüsselbund in ihrer hand, schaute wieder zu mir auf und sagte dann:

'du wirst am 6. Oktober 2046 sterben.'

dann rissen wir unsere blicke voneinander los, und während ihr wagen in der kurve zur autobahnauffahrt verschwand, wurde mir bewusst, dass sie recht hatte.

ich fuhr hinunter nach engelskirchen, kaufte drei liter 3,5%ige milch und war noch immer von dieser transparenten zeitblase umhüllt. kein zweifel: sie hatte recht. 2046 werde ich 84 jahre alt sein. mein grossvater ist 84 jahre alt geworden und ich habe es schon als kind für das perfekte alter gehalten. würde ich früher sterben, hätte ich nicht genug gesehen. und sehr viel später wollte ich auch nicht sterben, denn ich möchte bis zu meinem tod wache sinne wahren und keinen lebensabend in senilität und siechtum erleben. auch der 6. oktober war ein perfektes datum: ich würde noch den gesamten sommer erleben, das blühen und welken aller pflanzen, und bräuchte nicht einmal mehr heizöl für den winter zu kaufen. ich habe noch 41 jahre zeit, die eigene todesanzeige zu formulieren und einladungen zu verschicken:

'lieber jörg, falls du am 06.10.2046 noch leben solltest, lade ich dich herzlich zu meiner bestattungsparty ein. der genaue ort wird am vortag noch bekannt gegeben. dresscode: casual. ich werde zu lebzeiten alles gesehen haben, was ich sehen wollte, also bring' gute laune mit!'

ich fuhr zurück nach hause. während ich den gartenweg entlang ging, sah ich, dass die kletterrose ihre blüten geöffnet hatte und ich wieder im hier und jetzt angekommen war. in der küche schaltete ich die kaffeemaschine ein und verstaute die milch im kühlschrank. dann setzte ich mich an den küchentisch, schaute hinaus durchs fenster und dachte nach...

...ja, sie hatte recht. sie hatte schon immer recht gehabt. und ich wusste:

ich werde nie ihren namen erfahren.
ich werde ihr keine einladung schicken können.
wir werden uns nie mehr wiedersehen.

aber das alles war auch nicht mehr wichtig - wir sind uns ja begegnet.

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epilog:
in einem bestimmten raum des bekannten universums und in einem bestimmten bereich der sinnlichen wahrnehmung ist diese geschichte vollständig wahr.

 

 

 

     
   
 

 

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